Am Rand von Köln-Meschenich stehen kleine gepflegte Reihenhäuser neben den wenigen Betonriesen vom Kölnberg – ein prägender Kontrast, mit dem die Bewohner hier wie dort zu leben gelernt haben.
Erschienen im Kölner Stadt-Anzeiger vom 1. August 2015
Die wenigsten Häuser in Meschenich haben mehr als drei Geschosse. Ein Dorf wie viele im Kölner Süden – wenn die allgegenwärtige Kulisse der Hochhaussiedlung nicht wäre. Am Rondorfer Pfad stehen auf der einen Straßenseite Reihenhäuser. Gegenüber beginnt der soziale Brennpunkt, bekannt unter dem früheren Straßennamen Am Kölnberg. In den 1970er Jahren entstanden die Türme mit 1300 Wohnungen auf bis zu 26 Stockwerken.
Sylvia Fuso lebt seit zwölf Jahren in einem der neun Hochhäuser, allein in zwei Zimmern. Für ihre Tochter war der Umzug der Mutter ein Absturz. Frau Fuso findet, das Haus sei wie ein kleines Dorf: „Ich grüße jeden hier, auch die Prostituierten und die Alkoholiker. Ich habe in Häusern mit sechs Parteien gewohnt, das war anonymer.“ Sie sitzt auf dem Balkon im zehnten Stock. Ein Netz hindert ihre Sittiche daran, trotz offener Balkon- und Käfigtür das Weite zu suchen. Ihr Balkon blüht üppig. Geranien, Stiefmütterchen und Nelken leuchten. Der Platz für Besucher ist spärlich, der Blick übers freie Feld fantastisch. Der Schatten einer Wolke zieht vorbei. „Man sieht das Wetter kommen“, sagt die 62-Jährige. Sie wohnt nah am Himmel, findet sie. 4000 Menschen aus mehr als 130 Nationen leben hier. Drogenabhängige Frauen, die sich prostituieren, Schüsse mitten in der Wohnanlage, Schlägereien, Armut und Verwahrlosung – im Rest der Stadt kennt man den Kölnberg eher als Hölle.
Johannes Keulen, 66, wohnt auf der anderen Seite. Er steht am Rand seines Gartenteichs. Er ist für die Fische, seine Frau Maria, 55, für den Garten zuständig. Hündin Maja hat Bälle auf dem Rasen, zwischen Büschen und Sträuchern verteilt. Drinnen, im Wohnzimmer, sitzen dutzende Porzellanfiguren in einer Vitrine. Robert, einer der beiden Söhne, bewohnt das Obergeschoss. Die Keulens haben es gemütlich in ihrem zweistöckiges Reihenhaus. Durch das Küchenfenster schauen sie auf die andere Straßenseite. „Was soll denn da gefährlich sein?“, fragt Johannes Keulen. In ihr Haus wurde eingebrochen, zweimal in all den Jahren. Er führt das nicht auf den Kölnberg zurück: „Das passiert überall in der Stadt.“
Die euphorischen Planer hofften, dass die Mittelschicht in die Hochhäuser ziehen würde. Früher gab es in einem der Häuser ein Schwimmbad. Heute werden in den umgebauten Erdgeschossräumen Kinder betreut. Neben dem Außengelände der Kita landete im vorigen Jahr die halbverweste Leiche eines Drogensüchtigen. Jemand warf sie von einem Balkon aus der neunten Etage. Suchtberater, Sozialarbeiter und Polizisten betreiben Anlaufstellen in umgebauten Wohnungen.
Der Kölnberg ist das Anti-Veedel, der Alptraum der Stadtgesellschaft, in Beton gegossene Peripherie, in jeder Hinsicht schlecht angebunden. Kaum einer hier ist bereit, mit Journalisten zu sprechen. Man will nicht schlecht reden über das Viertel. Also schweigt man. Die Bewohner haben gelernt, dass sich der Rest der Stadt nur für sie interessiert, wenn etwas Schlimmes passiert. Wen kümmert schon, wie der Alltag in der Siedlung aussieht. Oder nebenan im Dorf.
Rechtzeitig zur Einschulung des Ältesten 1985 tauschten die Keulens die Innenstadt gegen den Vorort. Die Familie väterlicherseits wohnt im nahen Brühl. Den damaligen Preis für die Immobilie fanden sie angemessen. Sorgen wegen der Nachbarschaft machten sie sich nicht. Früher arbeitete Johannes Keulen für die Stadtverwaltung, viele Jahre im Sozialdezernat. Mittlerweile ist er im Ruhestand. Er wirkt nicht wie jemand, der die Dinge beschönigt. Einzelne, die sich daneben benehmen, hätten die Siedlung in Verruf gebracht. Auch die Stadt habe zum schlechten Ruf beigetragen, indem sie lange Zeit nichts gegen Leerstand und Verwahrlosung unternommen habe.
Zwischen 200 und 600 Menschen, so die Schätzungen, wohnen in der Siedlung, ohne offiziell gemeldet zu sein. Es gibt Wohnungen, die sich 20 Menschen und mehr teilen. Eigentümer und zwielichtige Wohnungsvermittler nutzen die Not der Ärmsten aus. Dramatische Schilderungen, Klagen oder Generalisierungen wird man von Johannes Keulen nicht hören. „Das Ding steht nun mal da“, sagt er. Er kennt ein paar seiner Nachbarn. Sohn Robert, geboren 1979, war mit Kindern vom Kölnberg in der Grundschule. Sein bester Freund wohnte in den Hochhäusern, Robert war oft zu Besuch. An die Spaghetti mit Fleischsoße in der Küche der siebenköpfigen jugoslawischen Familie erinnert er sich gut. „Mir schien die Wohnung groß genug“, sagt er. Zusammen erlebten die beiden ihre Abenteuer. Sie schnorrten Geld für Wassereis, badeten in den Baggerseen und spielten im Garten von Roberts Eltern. Angst hatte er nie.
In der zehnten Klasse erst wurde ihm klar, welches Image der Kölnberg hat. Eine Familie wurde ermordet. Die Töchter kannte Robert aus der Schule. „Typisch Meschenich“, sagten manche. „Ich habe das vorher nicht wahrgenommen“, sagt Robert Keulen. „Hier passiert nicht ständig etwas“, erläutert er seitdem, wenn er erzählt, wo er wohnt. Seine Mutter Maria Keulen unterhält sich ab und an mit den Nachbarn in der Straße. Als Maja eines Tages ausbüxt, bringen zwei junge Frauen vom Kölnberg den Hund zurück. „Man kennt sich vom Gassi gehen“, sagt sie. „Das sind alles nette Leute“, sagt ihr Mann. Und: „Die wohnen nicht freiwillig da. Die kriegen einfach keine andere Wohnung.“
„Natürlich würde ich gerne wieder in der Innenstadt wohnen“, sagt Sylvia Fuso. Sie ist im Agnesviertel aufgewachsen, ihre Eltern waren Berufsmusiker. Den Ebertplatz nennt sie Heimat. 1990 baute sie mit ihrem Mann, einem gebürtigen Italiener, ein Haus im Kölner Norden. Sie arbeitete in der Gastronomie, ihr Mann als Schweißer. Sie arbeiteten viel, verdienten gut. „Eine superschöne Zeit“, sagt sie. Sechs Jahre später, nach 24 Jahren Ehe, trennten sie sich. Spielschulden ihres Mannes, die Scheidung, gesundheitliche Probleme, die Pflege ihrer Mutter und eine Räumung – am Ende drohte ihr die Obdachlosigkeit. Sie schlief bei Freunden und wendete sich schließlich an das Wohnungsamt. Dort vermittelte man ihr die Zwei-Zimmer-Wohnung in Meschenich, die mit 40 Quadratmetern so groß ist wie der Vorgarten ihres früheren Hauses. An den Wänden hängen Bilder, Fotos und Poster. Teppiche liegen auf dem Boden, Kissen auf dem Bett. Zierrat steht auf Fensterbänken, auf der Kommode und im Regal. Einsam fühlt sie sich nie am Kölnberg. Auf der Etage kennt man sich. Sie besucht fast täglich ihre Nachbarin. „Das Leben muss man sich schön machen“, sagt sie.
„Ich grüße jeden hier, auch die Prostituierten und die Alkoholiker. Ich habe in Häusern mit sechs Parteien gewohnt, das war anonymer.“
Sylvia Fuso
„Was soll denn da gefährlich sein?“
Johannes Keulen