Hermon aus Eritrea berichtet, er sei auf der Flucht nach Europa gleich zweimal entführt worden. Seine Mutter, die bereits in Köln war, konnte das Lösegeld nur mit Hilfe der Lutherkirchengemeinde aufbringen. Geld für Kidnapper? Pfarrer Hans Mörtter sagt, „Nichtstun ist keine Alternative“
Erschienen im Kölner Stadt-Anzeiger, 27. Dezember 2018
Wihazit Kerim sitzt in einem Hotelzimmer am Rande des Kwartier Latäng auf dem Boden und röstet Kaffeebohnen in einem kleinen Topf, den sie über eine Gasflamme hält. Der frisch aufgebrühte Kaffee, den sie anschließend aus einer Tonkaraffe in kleine bunte Tassen gießt, gehört zum Alltag in ihrer eritreischen Heimat. Es wirkt, als beschwöre sie mit der Zeremonie eine Normalität, die es in diesem Zimmer nicht gibt.
Ihr Sohn Hermon wurde auf der Flucht nach Europa zweimal entführt. Sie musste für die Lösegeldzahlungen fast 10 000 Euro aufbringen. Jetzt sitzt er auf einem der beiden Betten in ihrem Zimmer. Ein älterer, freundlicher Eritreer übersetzt die Bitte um ein Gespräch und versucht Hermon väterlich zu überreden, Antworten zu geben. Seine Reaktion ist knapp, der Tonfall eindeutig: Er will eigentlich nicht.
Seine Mutter spricht für ihn. Hermon wurde auf der Flucht 15 Jahre alt. Die Perspektivlosigkeit und der drohende Militärdienst im brutal regierten Eritrea trieben ihn fort, zu seiner Mutter, die bereits ein Jahr zuvor an den Rhein geflüchtet war. Dass sie ihre vier Kinder zurückließ und nach Europa aufbrach, erklärt sie mit schierer Verzweiflung. Sie habe keinen anderen Weg gesehen, sie zu versorgen. Jetzt schickt sie monatlich Geld an die älteste Tochter, das sie als Putzfrau im Hotel verdient. In diesem Sommer kann sie wenigstens ihren Sohn wieder in ihre Arme schließen. Zunächst leben sie im Kölner Hotel Mado, das zur liebevoll geführten Herberge für viele geflüchtete Ostafrikaner geworden ist. Doch ein Happy End ist das für Hermon und seine Mutter nicht. Die Sorge um seine Geschwister in der Heimat ist groß, und der Weg nach Europa war traumatisch.
Länger als ein Jahr war Hermon auf der lebensgefährlichen Route unterwegs. Seine Mutter berichtet: Sowohl im Sudan als auch in Libyen sei er entführt worden. Die Entführer hätten jeweils von Hermons Telefon bei ihr angerufen und ihre Forderungen gestellt. Während sie auf das Geld warteten, habe Hermon mit anderen Geiseln in engen Kellern ohne Toilette ausharren, sich karge Mahlzeiten teilen und Schläge erdulden müssen. „I love you Ma“, ließ er sich von einem anderen Flüchtling auf seinem Unterarm tätowieren – ein Gruß an seine Mutter, hätte er nicht überlebt. Die wandte sich unterdessen an Pfarrer Hans Mörtter von der Kölner Lutherkirchengemeinde. Das Lösegeld für die Entführer bekam sie allein mit ihrem Job in einem Hotel nicht zusammen. Mörtters Gemeinde engagiert sich in einer Willkommensinitiative. Mehr als ein Dutzend Mal haben sie Angehörigen von Entführten geholfen. Sorge, dass die Hilfsbereitschaft ausgenutzt wird, hat Mörtter nicht. „Ich erkenne das, wenn ich ein Herz brechen höre“, sagt der evangelische Pfarrer. In einzelnen Fällen habe er die Hilfesuchenden aufgefordert, zunächst noch andere Geldquellen aufzutun.
Für Hermon steuerten die Gemeindemitglieder etwa die Hälfte zu den beim ersten Mal geforderten 3000 Euro bei. Beim zweiten Mal stiftete eine Einzelperson den gesamten Betrag. Diesmal hatten die Entführer mehr als doppelt so viel gefordert: 6500 Euro. „Das heißt, er wurde weiterverkauft“, erläutert Mörtter. Ein Eritreer „kostet“, so formuliert er mit dem Zynismus, der der Praktik zu eigen ist, eigentlich nur 3000 Euro. Verkaufe eine Gruppe ihn weiter, steige der Preis, damit alle daran verdienen können.
Hermons Mutter habe das Lösegeld jeweils an Fremde übergeben, ohne Garantien. Beim zweiten Mal habe sie einen Mann nach den Anweisungen der Entführer in Frankfurt getroffen und ihm den Betrag auf offener Straße in die Hand gedrückt. Einen Tag später habe sich Hermon am Telefon gemeldet: Er war frei. Trotzdem habe es noch drei Monate gedauert, bis er am Ende der gefährlichen Reise über das Mittelmeer, durch Italien und Frankreich, eines Nachts in Köln auftauchte.
Die Geschichte lässt sich schwer überprüfen. Berichte von Menschenrechtsgruppen zeigen aber: Entlang der Fluchtrouten durch das nördliche Afrika und insbesondere im kollabierten Staat Libyen sind Entführungen ein einträgliches und gut organisiertes Geschäft. Flüchtlinge, die es nach Europa geschafft haben, gehören dabei zum Geschäftsmodell. Bei ihnen landen die Anrufe der Erpresser, die im Telefon der Entführten nach Verwandten und Freunden suchen. Zahlen sie nicht, drohen der Geisel Folter und Versklavung. Auch Berichte von Organhandel gibt es immer wieder.
Wie viele der Bewohner im Kölner Hotel Mado schon Verwandte oder Freunde freigekauft haben, lässt sich nur schätzen – ebenso, wie viele selbst Opfer von Entführungen wurden. Ermittlungen der deutsche Polizei in solchen Fällen gibt es nicht. Das Bundeskriminalamt erklärt auf Anfrage, „bei Entführungsfällen im Ausland“ nur zuständig zu sein, wenn deutsche Staatsbürger betroffen seien. Anders verhält es sich mit einer Geldübergabe, die auf deutschem Boden stattfindet. Zunächst müsse die Polizei allerdings „Kenntnis davon erhalten“. Hermons Mutter hat keine Anzeige erstattet.
Traumatische Erfahrungen und Angst vor den Netzwerken der Erpresser, die offenbar bis nach Deutschland reichen: Bei den Betroffenen herrscht nach der Ankunft erst einmal das Bedürfnis vor, zu vergessen. Das sagt auch einer, der in Deutschland aufgewachsen ist, und als gebürtiger Eritreer in der Kölner Community gut vernetzt ist. Er will anonym bleiben. Ihn überrascht es nicht, dass die Kriminellen offen in Deutschland agieren können. Er sieht in ihren Netzwerken „die Kehrseite“ der Verbindungen, die die Schlepper nach Europa geknüpft haben. Ohne ihre Hilfe ist eine Flucht gar nicht möglich. Wer sich ihnen aber anvertraut, ist zugleich ausgeliefert. „Klar gibt es auch die Schleuser, die maximalen Profit daraus schlagen wollen“, sagt er. Vom Schweigen der Betroffenen profitieren auch die Mittelsmänner, die die Zahlungen in Deutschland abwickeln. Sie haben wenig zu befürchten.
Für die Betroffenen kann das Schweigen dagegen schwere psychische Folgen haben. Die Datenlage ist dürftig. Sexuelle Ausbeutung, Misshandlung, Folter und Tod: „Das auf der Flucht Erlebte ist kein Asylgrund“, sagt Claus-Ulrich Prölß vom Kölner Flüchtlingsrat. Also spreche kaum jemand darüber mit offiziellen Stellen. Prölß zitiert als Anhaltspunkt aber eine Schätzung der medizinischen Fachwelt. Rund 40 Prozent der Flüchtlinge leiden demnach an Posttraumatischer Belastungsstörung, PTBS. Sie sind krank.
Wie sieht es in Hermon aus? Endlich angekommen, ist für Freude kaum Platz. Er zeigt Narben an seinem Körper, wacht nachts oft auf, schreit und schlägt um sich. Und dann ist da die Sorge um seine Geschwister. Gemeinsam mit seiner Mutter redet er am Telefon nun vor allem auf seine Schwester ein. Auch sie will weg, aber für Frauen ist die Flucht noch viel gefährlicher. Was Hermons Mutter nicht versteht, was auch Pfarrer Hans Mörtter nicht versteht: Sie finden keine Möglichkeit, die Familie zusammenzuführen. „Es gibt keine legalen Fluchtwege. Es gibt kein Visum, um Asyl beantragen zu können“, beklagt auch Prölß.
Hermon fährt inzwischen einmal in der Woche zu einem Reiterhof, der Therapien mit Pferden anbietet. Mörtter hat ihm den Platz vermittelt. Wie geht der Pfarrer damit um, dass er mit den Lösegeldzahlungen das Geschäft der Entführer unterstützt? Nichtstun sei keine Alternative, sagt er: „Meine Hände in Unschuld waschen – das kann ich nicht.“
„I love you, Ma“
Tätowierung auf Hermons Arms
“Es gibt keine legalen Fluchtwege. Es gibt kein Visum, um Asyl beantragen zu können”
Claus-Ulrich Prölß, Flüchtlingsrat Köln